Bismarck by Nonn Christoph

Bismarck by Nonn Christoph

Autor:Nonn, Christoph [Nonn, Christoph]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783406675904
Herausgeber: C.H.Beck
veröffentlicht: 2015-04-24T16:00:00+00:00


KAPITEL 8

Aufbau und Umbau eines Nationalstaats (1866/71–1890)

Die Gründung des Deutschen Reiches fand nicht 1871 statt. Sicher, im Januar dieses Jahres wurde das Reich im Spiegelsaal des Versailler Schlosses ausgerufen. Doch das besiegelte im Grunde nur den Beitritt der süddeutschen Staaten zu den Strukturen des Norddeutschen Bundes. Diese Strukturen, die äußere Hülle des neuen Nationalstaats, bestanden schon seit 1867. Genau genommen war die Reichsgründung noch nicht einmal ein Ereignis, das «stattfand» – weder 1867 noch 1871. Denn der eigentliche Aufbau des Nationalstaats, das Füllen der äußeren Hülle, dauerte Jahre, ja im Grunde mehr als ein Jahrzehnt. Und kaum war der Aufbau des Gebäudes abgeschlossen, begann bereits ein Umbau.

Der Gründungsprozess dauerte auch deswegen so lange, weil er nicht das Werk eines Einzelnen war. Otto von Bismarck hat zweifellos seine Spuren in der Architektur der Neugründung hinterlassen. Aber die Pläne des neuen Hauses wurden von vielen Bewohnern beeinflusst und mitgestaltet. Das gilt für die vom liberalen Bürgertum angeführte Nationalbewegung wie für die alten Eliten aus Fürsten und Adel, für die Vormacht Preußen ebenso wie für die anderen Staaten. Der Aufbau des Deutschen Reiches war ein Kompromiss, das Ergebnis langwierigen Aushandelns zwischen verschiedenen Positionen. In diesem innenpolitischen Aushandlungsprozess der Reichsgründungszeit hat Bismarck bereits virtuos jene Rolle gespielt, die er sich später im Hinblick auf Europa selbst zuschrieb – die des Maklers.

Es ging auch anders. Statt durch die Vermittlung zwischen verschiedenen Interessen ließ sich ein Nationalstaat im Innern auch so fundieren, wie er nach außen durchgesetzt wurde: mit Gewalt. Italien war dafür ein Vorbild – und ein Schreckbild. Die italienische Einigung geschah mit der Brechstange. Die Fürstentümer, die es vor 1860 auf der Apenninenhalbinsel gegeben hatte, wurden allesamt Piemont-Sardinien einverleibt. Zwar gingen diesen Annexionen jeweils Volksabstimmungen voraus. Freilich wurde dabei den meisten der Abstimmenden, die weder lesen noch schreiben konnten, von wohlmeinenden Patrioten sehr deutlich gemacht, wo sie ihr Kreuz zu setzen hatten. Wer anderer Meinung als die gut bewaffneten Patrioten war, blieb vorsichtshalber lieber zu Hause. Mit über 99 Prozent Zustimmung erbrachten die Abstimmungen so Resultate, die noch eindeutiger ausfielen als zwischen 1945 und 1990 in den osteuropäischen «Volksdemokratien». Der so legitimierte italienische Nationalstaat wurde dann rigoros «piemontisiert»: Recht, Militärverfassung, Wirtschaftssystem und so weiter wurden gleichsam über Nacht nach dem Vorbild Piemonts vereinheitlicht.

Diese brutale Zentralisierung im Namen der Nation provozierte Gegenbewegungen. Zum einen rief der Papst, vom neuen italienischen Nationalstaat um seine weltliche Herrschaft gebracht, seine Anhänger zum passiven Widerstand auf. Millionen überzeugter Katholiken boykottierten jahrzehntelang Wahlen und politisches Leben in ganz Italien. Zum anderen wurde der Süden des Landes während der 1860er und 1870er Jahre von bürgerkriegsähnlichen Zuständen erschüttert. Die rigorose «Piemontisierung» bei gleichzeitigem Ausbleiben erhoffter sozialer und politischer Reformen führte zur Bildung von Räuberbanden, den Briganten, die sich der Unterstützung eines Großteils der Menschen in Süditalien erfreuten. Mehr als die Hälfte der italienischen Armee war jahrelang mit der Bekämpfung dieser Banden beschäftigt.

In Deutschland blieben solche bürgerkriegsähnlichen Erschütterungen nach der Reichseinigung aus. Zwar waren auch hier 1866 Hannover, Hessen-Kassel und Nassau durch Preußen annektiert worden. Zwar gab es auch hier jahrzehntelangen Widerstand, vor allem im ehemaligen Königreich Hannover.



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